26.05.2008 | Neubeuern | (SN).
Sie strömen aus allen Himmelsrichtungen herbei, um über die Wolfsschlucht
zu balancieren. Slackliner stehen auf dieses Gefühl der bodenlosen
Freiheit.
Gudrun Doringer Neubeuern (SN).
Es gibt keine Zuschauer, nur Eingeweihte
an diesem verregneten Nachmittag auf einem entlegenen Waldstück bei
Neubeuern im Landkreis Rosenheim (Bayern). Wie der Regen von den
Baumwipfeln tröpfeln langsam auch die Akteure aus allen Himmelsrichtungen
ein.
Es hat etwas von einer Verschwörung, wenn nach und nach neue Gesichter
zwischen den Bäumen auftauchen und sich zur Gruppe an der Wolfsschlucht
gesellen. Man kennt sich. Die einen kommen aus Graz, die anderen aus
Innsbruck, da reisen Geübte an, dort Mut-Willige mit wenig Erfahrung. Die
einen grüßen, die anderen spazieren gleich über eine von den Slacklines,
die an Baumstämmen befestigt sind. Zum Aufwärmen. Der Hauptakt ist ein
anderer.
Auf dem Weg dahin, sich vorsichtig an den Abgrund herantastend, löst sich
ein Stein unterm Schuh, kullert über die Böschung und kommt lautlos unten
an. Geschätzte vierzig Meter tief ist die Wolfsschlucht. Zwei Bäume stehen
sich wie Sphinxen auf den zwei Seiten der Schlucht gegenüber.
„Perfekt für eine Highline“, sagt Bernhard Friedrich. Gesagt, getan. Ein
lockeres, gespanntes Seil, so der deutsche Begriff für Slackline, wird an
den zwei Baumstämmen befestigt und ordnungsgemäß gesichert. „Ordnungsgemäß
heißt so, wie wir es von Kletterern und Feuerwehrleuten gehört haben. Es
gibt keine Highline-Sets oder so was zu kaufen. Das ist nichts für die
Masse“, erklärt Bernhard Friedrich. „Das ist ungefähr so wie Einradfahren.
Manchen genügt das Radfahren nicht, die wollen mehr. Und trotzdem fahren
ja nicht alle mit einem Einrad herum.“
Einer von denen, die mehr wollen, ist Christian Waldner. Beide Arme
ausgebreitet, steht er an der Schlucht, vor dem schmalen, schwingenden Weg
zur anderen Seite. Er blickt nicht nach unten, sondern konzentriert ins
Leere. „Es ist die Angst vor der Angst, die das Highlinen so schwierig
macht“, flüstert Sven Leitinger aus Salzburger. Er hat sich bisher noch
nicht ins Bodenlose vorgewagt, sondern seine Slacklines immer knapp über
dem Boden befestigt und geübt. „Am Anfang zittern deine Füße
unkontrolliert auf dem Schlauchband hin und her. Du kannst nicht
erzwingen, dass das aufhört. Du übst einfach, immer und immer wieder, und
irgendwann ist es weg.“
Zu zittern beginnt jetzt auch das Seil unter Christian Waldners Füßen. Auf
halbem Weg nach drüben hat er plötzlich die Kontrolle verloren, schwingt
wie ein Surfer mit dem Seil hin und her, um nicht zu fallen. Vergeblich.
In vierzig Meter Höhe stürzt er in seinen Sicherungsgurt, zappelt unterm
Seil und sitzt Sekunden später schon wieder obenauf. „Aus dem Sitzen
wieder aufzustehen, ist schwer“, sagt Leitinger und blickt gebannt auf
Christian Waldner, dem dieses Kunststück aber gelingt.
154 Meter lang sei die längste Highline der Welt, erzählt Bernhard
Friedrich. Und dass Slacklinen im Yosemite Nationalpark entstanden sei.
„Das machen die Kletterer dort an Rast- und Regentagen“, sagt er. Was dort
unter Nebenbeschäftigung läuft, beschäftigt ihn immer und überall. „Man
kann eine Slackline auch im Stau zwischen Anhängerkupplung und Leitplanke
spannen“, weiß der EDV-Techniker aus Erfahrung.
Seil zwischen Leitplanke und Anhängerkupplung
Michael Aschaber fuhr zum Slacklinen sogar nach England und holte sich den
zweiten Platz bei den Slackline-Masters. „Früher hatte ich extreme
Höhenangst“, verrät der 26-jährige Tiroler. „Das hier ist eine gute
Möglichkeit, so was zu überwinden.“ Man sieht’s. Auf der Slackline reicht
ihm das Balancieren gar nicht mehr. Nebenbei jongliert er Keulen, setzt
sich auf das Seil, steht wieder auf und legt zwischendurch kleine Salti
ein. „Slacklinen funktioniert nur, wenn du es nicht zu viel willst“,
lüftet Christian Waldner das Rätsel um den Balanceakt zwischen den zwei
hölzernen Sphinxen. „Es ist reine Kopfsache.“